Ich schrieb diese Geschichte 1999, schickte sie 2000 das erste Mal online und sie gefällt mir immer noch :-)
Für die "Neuauflage" habe ich sie nur wenig verändert.
Ich sitze in der Dämmerung am Rheinufer auf einem Baumstamm, um Bisamratten zu beobachten. Reine Glückssache. Ich sitze oft hier. Bisamratten verschränken ihre Pfoten beim Schwimmen vor der Brust. Beim Tauchen schließen sie ihre Ohren. Ich bin hier, weil ich meine Ohren nicht schließen kann. Ich bin schlaflos.
Heute ist die Luft voller Schwärme winziger Fliegen, die ich bei meinen Besuchen im Dunkeln noch nie gesehen habe. Vielleicht bleiben sie die ganze Nacht auf, hier, am Strand. Vielleicht gehen sie erst später, nachts, schlafen. Was tun Fliegenschwärme nachts? Fliegen diese kurzlebigen Tiere rastlos weiter, bis sie tot herunter fallen oder gefressen werden?
Jetzt fliegen zwei Enten über mich hinweg und wassern geräuschvoll. Enten scheinen ein Doppelleben zu führen. Gestern Nacht habe ich eine gesehen, die nichts mit den sturen, wachsamen und gierigen gewöhnlichen Entenwesen zu tun hatte, die des Tags an öffentlichen Gewässern unterwegs sind. Nachts, wenn sie sich unbeobachtet wähnen, verwandeln Enten sich in Kraniche, großartig, gelassen und anmutig, mit aller Zeit der Welt zum Umherschwimmen und Futternippen. Nachtenten lassen mich von ihrer ganzen Spezies freundlicher denken.
Das Entenpaar heute schaut sich gerade scheu um und hat sich offensichtlich noch nicht entschieden, ob es nun zu den Tag- oder Nachtenten gehört. Ein letztes Motorboot fährt an der Insel Petersaue vorbei. Ich schaue hinauf in den Baum, in dem so oft die Krähen lärmen. Noch ist es gerade hell genug, um vielleicht einen Grund dafür zu erkennen, ein Nest oder dergleichen. Aber ich kann nichts Besonders darin finden.
Ich schaue zum Bisamgebüsch flussabwärts unter den herabhängenden Weidenzweigen. Der kleine Vorsprung aus ästen und Treibgut, auf dem ich die Bisamratten manchmal gesehen habe, könnte der Landesteg für eine Bisamstationsburg sein. Bisamratten leben in Wohnburgen und in Stationsburgen. Die Stationsburg liegt in der Nähe der Wohnburg, sie ist der Ort, an den die Tiere zum Fressen kommen. Eine Fressburg.
Die Rheinoberfläche ist heute besonders unruhig. Luft gluckst auf und bildet Ringe, die sich als Spuren einer gerichteten Bewegung unter Wasser weiterverfolgen lassen. Jemand taucht an mir vorbei, vorsichtig und genauso auf der Pirsch wie ich. Drüben auf der Petersaue ruft der Kuckuck, aber ich werde nicht versuchen, durch die Strudel hinüber zu schwimmen und mich unter seinen Baum zu stellen, obwohl das Glück bringen soll.
Meine Augen suchen das Wasser weiter ab. Es gibt Wasserspiegelungen und -bewegungen, auf die ich wohl immer wieder hereinfallen werde, jetzt im Zwielicht noch mehr als bei Nacht. Keine zwanzig Meter von mir entfernt wird die dunkle Spiegelung eines Weidenzweiges mit jeder Welle sanft angehoben und abgesenkt. Jedes Mal sieht dieses Lichtgebilde einem schwimmenden Bisamkopf täuschend ähnlich. Ich spanne mich unwillkürlich an, schaue genau hin, wieder nichts!
Jetzt endlich erscheint eine Bisamratte an der Stationsburg. Sie macht sich offensichtlich bereit, auszugehen, klettert auf ihrem Landesteg herum, taucht ins Wasser ein, schwimmt dicht an mich heran, dreht sehr gemächlich bei, turnt wieder auf dem Landesteg herum und schwimmt dann flussabwärts davon. Nach kurzer Zeit kehrt sie zurück und macht sich erneut auf. Hat sie mich nun gesehen oder nicht? Es ist kaum vorstellbar, dass sie nur gut einen Meter an mir vorbeischwimmt, ohne sich an meiner Nähe zu stören.
"Es gibt so viel Bizarres am Strand, angespült von weit her," sage ich ihr, "betrachte mich als Teil des wechselnden Inventars. Ich bin ein Tetrapack, eine Holzplanke, ein Schreibtischstuhl, ein Motorradhelm." Glaubt sie mir? Sie taucht jetzt lässig unter, wenn sie an mir vorbeischwimmt. Nach drei Metern taucht sie wieder auf und erledigt, was sie außerhalb meiner Sichtweite zu tun hat. Ohne Aufhebens schwappt nun der Rest der Dunkelheit herein.
Fledermäuse kommen aus ihren Verstecken, um auf Jagd zu gehen. Flugzeuge zeichnen sich vor dem grauen Himmel als zielstrebige Lichtkleckse ab. Der Kuckuck ruft noch einmal, eine Krähe antwortet. Oben an der Straße ist die Laternenbeleuchtung angegangen. Die nimmermüden Fliegen verlagern ihre Aktivitäten dorthin. Auf dem Wasser treibt ein großes Holzscheit wie ein bedrohliches Tier heran. Die Straßenlaternen beleuchten bruchstückhaft seine schwankende Bewegung. Es treibt schwerfällig auf den Bisamlandesteg zu und legt sich dort quer. Rums!
Das Holz, das eben noch wie ein wankender Drache ausgesehen hat, ist ein Stück Landesteg geworden, als sei es nie etwas anderes gewesen. Und schon wieder ist die Bisamfressburg angewachsen.
Beständig gluckst und schwappt und ruft etwas an diesem Ufer. Und dennoch ist die Bisamwelt eine lautlose, stille Welt, eine Welt, in der es den Atemzug gibt und das Plätschern und das Knistern im Gestrüpp und die Fabrik am anderen Ufer hinter der Petersaue, die Bahn von fern, die Stille der Enten und der Jogger oben am Weg. Dann die Stille, die den Joggerschritten folgt, die Stille des Mondes und der Weiden, und endlich die Stille der paddelnden Bisamratten, die ihre Ohren verschließen, wenn sie tauchen. Ich bin hier, weil ich meine Ohren nicht verschließen kann vor dem Lärm, dem Lärm, den diese Stille macht.